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Interview mit Claudia Klinger

über ihr Projekt Human Voices, Cyberkultur und die Vorteile und Tücken des Online-Seins.

KriT: Du hast ein Projekt mit dem Namen Human Voices im Web. Was ist das für ein Projekt und wie bist Du darauf gekommen.?

Claudia: "Human Voices - Texte aus Nirgendwo" ist eine wachsende Sammlung von Gedichten, Prosatexten und Bildern. Neuerdings entwickelt sich sogar eine Art kollektiver Roman. Wer mag, kann mitschreiben. Ich bin darauf gekommen, weil - gerade als ich anfing, an einer Homepage zu basteln - der 1. Internet-Literaturwettbewerb der ZEIT ausgeschrieben wurde. Da hab' ich das Ganze mit drei eigenen Texten als Beitrag eingereicht und gleichzeitig als Homepage ins Netz gestellt.

KriT: Es gibt ja verschiedene Wege, das Internet kennenzulernen, zu erfahren und zu nutzen. Wie sah und sieht das bei Dir aus? Denke auch einmal an die ersten Online-Stunden und an Deine Entscheidung, online zu gehen, zurück.

Claudia: Oh, ich mußte einfach sehen, was da so läuft. Ich hatte schon viel darüber gelesen und mich interessiert es, was sich entwickelt, wenn jeder publizieren kann, unabhängig von Institutionen und Verlagen. Ich hatte dann erstmal den Info-Overflow, bin regelrecht versackt in den Unmengen von Angeboten. Mit archaischen Methoden (z.B. "alles ausdrucken") hab' ich versucht, einen Überblick zu bekommen, bis ich merkte, daß ein anderes Medium auch andere Verhaltensweisen fordert: physisches Sammeln ist unnötig, es reicht, wenn ich weiß, wo ich was finde, wenn ich es brauche. Heute nutze ich gezielt Suchmaschinen und Verzeichnisse, besuche regelmäßig bestimmte Sites und nehme mir auch Zeit, um einfach so von Link zu Link zu "schlendern", damit ich noch neue Entdeckungen mache.

KriT: Wieviel Zeit verbringst Du online, so im Schnitt pro Tag?

Claudia: Kommt drauf an, was gerade so anliegt. Wenn ich z.B. für einen Artikel recherchiere, können es schon mal 4-5 Stunden sein, normalerweise vielleicht 1-3. Meine Telefonrechnung liegt bei 250 DM, das ist ein guter Indikator.

KriT: Ein neues Projekt von Dir heißt Missing Link - Cyberspace, Philosophy & Cultur. Du bist da dem Phänomen Cyberkultur auf der Spur. Um was geht es Dir dabei?

Claudia: Seit das Fernsehen sich verbreitet hat, ist das Internet das erste wirklich neue Medium. Es hat aber ein viel größeres Potential als das Fernsehen, weil es kein Massenmedium ist, wo nur große Sender ein passives Publikum mit vorgefertigten Programmen beliefern. Jeder kann mit geringem Aufwand selbst Inhalte kreieren und verteilen. Dazu kommt die Möglichkeit, per E-Mail Kontakt aufzunehmen. Ich finde es hochspannend, zu beobachten, was daraus entsteht. Es geht ja nicht nur um Unterhaltung, Konsum und Arbeitsorganisation: unser Bild vom Leben, von der Welt, von der Realität wird heute im wesentlichen über Institutionen und Massenmedien gebildet. Wenn die ihre alleinige Definitionsmacht verlieren und sich jeder selbst informiert, ist wieder alles offen - zum Guten wie zum Schlechten.

KriT: Eine Deiner Thesen ist, daß das Internet die Möglichkeit bietet, daß die Menschen über soziale und kulturelle Grenzen hinweg näher zusammenrücken könnten, indem sie z.B. gemeinsam an Netzprojekten arbeiteten. Siehst Du hier virtuelle Netzgemeinden entstehen, die gleichberechtigt und gleichermaßen bedeutsam für den Einzelnen neben der realen Welt bestehen könnten?

Claudia: In der realen Welt sind heute die physisch einander nahen Menschen unendlich weit voneinander entfernt. Die schützende Anonymität der großen Städte hat auch das Gesicht der Einsamkeit und Isolation. Man muß sich ja schon fragen, ob es noch angemessen ist, irgendwie einzuschreiten, wenn einer bewußtlos auf der Straße liegt oder ob das nicht ein unziemlicher Eingriff in dessen Privatsphäre ist. Im Cyberspace kommuniziert man wieder miteinander, findet Menschen mit gleichen Interessen, es entstehenn öffentliche Orte, an denen man sich trifft. Viele Funktionen, die bisher die Städte hatten, verlagern sich an virtuelle Orte im Netz.

KriT: Meinst Du, man sollte diese Trennung "virtuelle" und "reale" Welt aufgeben?

Claudia: Das kann man nicht so einfach beschließen. Man kann sich fragen, was die Voraussetzungen sind, daß wir etwas real nennen. Ich glaube, die Leute sagen "Realität" zum Real Life und meinen das physische Dasein. Aber wieviel am Mensch, am ganzen Menschen ist denn physisch? Wenn man "real" als "wirklich" versteht - also als das, was wirkt - dann wird der Cyberspace zur Zeit immer realer, bald wird er realer sein, als das Real Life. Baudrillard sagt dazu "hyperreal".

KriT: Ich mache gerade ein interessante Erfahrung: Da entwickeln sich vielversprechende Kontakte und plötzlich bekomme ich keine Antwort mehr. Die Person, die ich kennenlernte, ist plötzlich verschwunden und ich habe keine Möglichkeit mehr, z.B. die Frage nach dem Warum zu stellen. Im realen Leben, könnte ich auf den Menschen zugehen, im Cyberspace bin ich, ob ich will oder nicht, auf das good will und Interesse der anderen angewiesen, egal wie intensiv der Kontakt vorher war. Hier wird doch ein wesentlicher Unterschied in der sozialen und persönlichen Begegnung offensichtlich.

Claudia: Ja, das ist ein Vor- und ein Nachteil! Meine Erfahrung ist, daß die Leute online netter sind, weil sie wissen, daß es leicht ist, sich zu entziehen. So mancher zeigt da angenehme Seiten, die er/sie in "diesem Leben" ansonsten verbirgt, das ist der Vorteil. Andrerseits hast du recht: bei Ärger ist das Ende für den, der nicht mehr will, recht einfach. Ich vermute aber, daß, wenn die Kontakte bedeutender werden, sich niemand mehr so leicht zurückzieht. Vielleicht könnte es sich auch einbürgern, daß man sich als Freundschaftsbeweis die Telefonnummer gibt.

KriT: Ja, vielleicht sollte man die so schnell wie möglich austauschen. ;-) Denn das Medium Internet bietet uns zwar ein Feld für freie Entfaltung von Kreativität und ermöglicht ein Kommunizieren, das bis zu Arbeitsprojekten und Freundschaften führen kann. Gleichzeitig sind diese Spielarten der Selbstpräsentation und Kommunikation so dermaßen abhängig von der Technik, daß von heute auf morgen Welten zusammenstürzen könnten, wenn...

Claudia: ...wenn der Strom ausfällt oder das Netz an seiner eigenen Last zusammenbricht, wie es prophezeit wird. Wir können an der wachsenden Abhängigkeit von der Technik nichts ändern, individueller Verzicht ist keine Lösung, man wäre einfach nur draußen. Wir sollten uns aber der Abhängigkeit stets bewußt sein, das ist an sich schon ein geistiger Schutz vor dem Durchdrehen im "Ernstfall".

KriT: Kennst Du Philosophen, die sich mit der Beliebigkeit oder auch Intensivierung von Beziehungen "virtueller" Art beschäftigen?

Claudia: So konkrete Angelegenheiten hat noch kaum jemand betrachtet, oder ich kenne es eben nicht. Das ist jedenfalls genau der Bereich, in dem ich selber arbeiten will und worum es in "Missing Link" u.a. gehen soll.

KriT: Gut! Ist auch ein spannendes Thema. Was sagen denn Deine Freunde und Bekannten zu Deinem Engagement im Web und über das Internet im Allgemeinen?

Claudia: Es gibt einen großen Unterschied zwischen denen, die auch ab und zu online sind und den anderen, die das nicht kennen. Letztere sind entweder interessiert oder skeptisch bis ablehnend. Mein Freund hat jetzt auch angefangen zu surfen. ;-) Er bekommt in den nächsten Tagen erst seinen eigenen Account, bisher hat er nur ein bißchen Sightseeing gemacht, mein PC ist ja meist besetzt. Ich freue mich, daß er sich auch für den Cyberspace interessiert. Wir philosophieren jeden Tag darüber. Eine Freundin dagegen vermittelt mir immer ein schlechtes Gewissen: ich würde "die Natur" vernachlässigen. Aber momentan ist surfen für mich ganz natürlich ;-)

KriT: Ich habe letztens mit einem Freund, der noch nie Online war, die Erfahrung gemacht, daß die Unbedarften sich schlecht vorstellen können, was das Internet an Informationen und Möglichkeiten bietet. Er meinte anfänglich, das Internet wäre zu speziell, um für ihn relevant zu sein. Als wir eine Zeit zusammen surften, staunte er nicht schlecht.

Claudia: Genau! Das ist der große Unterschied! Jeder hat schließlich irgendwelche Interessen und zu allem gibt es was im Web... man muß es ihnen bloß zeigen.

KriT: Wie würdest Du Dich in 3 prägnanten Sätzen beschreiben?

Claudia: O je, das hab ich auf meiner Homepage unter "Persönliches" in 20 Sätzen versucht und kaum geschafft! Wer mag, kann das lesen... oder frag' mich 'was Konkretes.

KriT: Wie ärgerst Du Dich, wenn beim Surfen oder HTMLen was nicht klappt :-)

Claudia: Nur ganz kurz! Dann "schalt ich um auf ein anderes Thema". Ich hab' ja immer mehrere Vorhaben gleichzeitig. Ich lasse es dann gut sein, mache ein bißchen Bildbearbeitung oder koche mir einen Kaffee, rauche eine und weiter gehts.

KriT: Das ist gut! :-) Und was machst Du sonst noch in Deinem Alltag?

Claudia: Fast täglich übe ich eine Stunde Yoga, das brauche ich unbedingt für den Körper und für die innere Gelassenheit! Ansonsten lese und schreibe ich, gehe gerne spazieren und treffe ab und zu Freunde.

KriT: Ich möchte Dir hiermit den KriT-Apfel schon einmal gedanklich überreichen. Der soll Dich für weitere Aktivitäten stärken. Freust Du Dich?

Claudia: Ja, und wie! Damals im Paradies hat ja den Apfel ein Mann bekommen. ;-) Und dann kam der Aufbruch in eine neue Welt, wo man das Brot im Schweiße seines Angesichts verdienen mußte. Vielleicht wird das diesmal besser? :-))

KriT: <LOL> Hoffen wir doch! Vielen Dank für das Interview!


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