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Die Formbarkeit der Bits zu Welten

Oliver Gassner über die Mühen und Wege der Netzliteratur, sein Leben zwischen Bits und Bytes im Internet und die Tücken solcher Modebegriffe wie virtuell und Cyberspace.


 

KriT: Aus der Szene der Netzliteraten bist Du mit Deinen Projekten nicht mehr wegzudenken. Wie bringst Du Deine Webarbeit auf den Punkt und welche Projekte liegen Dir besonders am Herzen.

Oliver: Manche Leute betrachten das Netz als Fun-Medium, andere als globale Shopping-Mall, die dritte Gruppe als babylonische Bibliothek. Abgesehen davon, dass es 'eine' Antwort nicht gibt, sehe ich das Netz als kommunikatives Kulturmedium. Und das war es schon, weit bevor es das WWW gab: Der Ort einer elektronischen Subkultur, der Ort eines elektronischen Schattens der Gesellschaft, die es auch 'diesseits der Bildschirme' gibt. Diesem Kulturraum fühle ich mich verpflichtet. Meiner 'Herkunft' nach stamme ich aus der 'alternativen' (ich bevorzuge: kleinen) Literaturszene: "Wandler" war das erste Print-Projekt, an dem ich arbeitete und immer noch arbeite.

Dort machen Leute fotokopierte Magazine - hunderte in ganz Deutschland - und dabei ihre Zeit und ihr Geld verheizen. Ich mache inzwischen das selbe - nur eben im Netz. Oh je: Was mir das liebste Projekt ist, das ist schwer zu sagen. Vielleicht immer das, das gerade kräftige Zugriffssteigerungen zu verzeichen hat: weil ich so sehe, dass es jemanden interessiert. Etwas lieber noch würde ich wieder und mehr literarisch schreiben. On- und Offline. Das macht auch Spaß.


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KriT: Netzliteratur - Was ist das? Gibt es eine allgemeinverständliche Antwort?

Oliver: Jein. Wir diskutieren kontinuierlich daran herum. Die eine Extremantwort ist: Das selbe wie 'Literatur im Netz' (also auch die pure Gedichthomepage im HTML 2.0-Design.). Die andere Antwort ist: Eine neue Netzkunstform, bei der Sprache in innovativer Weise so eingesetzt wird, wie es nur im Netz möglich und sinnvoll ist. D.h. für das Netz das zu leisten, was das Drama für das Medium Bühne leistet - wenn man hier von einem Medium reden will - oder das Hörspiel für das Medium Radio. Also Bühnenliteratur und Radioliteratur. Das Problem dabei ist, dass wir dann so etwas wie Netzliteratur nicht haben. Naja und es gibt noch andere Probleme. Spannend bleibt die Suche immerhin.


KriT: Welche Probleme sind das?

Oliver: Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Das fängt bei der Frage an, wer eigentlich wie für Netzliteratur bezahlt - also das Publikum, Sponsoren, Verlage oder ob das ohnehin nur Hobbyschreiberei ist. Ansätze gibt es, und da ich momentan gerade auf der Suche nach Sponsoren für einige Projekte bin, sehe ich, wo die Schwierigkeiten sind und allerdings auch, bei welchen Firmen Leute offen für solche Kulturgeschichten im Netz sind.

Enden tut das dann mit der Frage, ob 'Netzliteratur' überhaupt ein passender Ausdruck ist, wenn Bild und Ton ins Spiel kommen. Der englische Begriff »Hyperfiction« steht ja im Raum, meint aber nicht ganz das, was »Netzliteratur andeuten soll«. Dirk Schröder schlägt in einem neuen Paper den Begriff 'Webfiction' vor, der mir persönlich wieder zu eng ist, weil er MUDs, Mailprojekte (aktuelles Projekt der Mailingliste Netzliteratur zur Sonnenfinsternis) nicht aussperrt aber 'separiert' und so nur einen Teil von dem umfasst, was ich unter Netzliteratur subsumieren würde.


KriT: Welche Diskussion im Umfeld der Netzliteraten hat es Dir in letzter Zeit wirklich angetan.

Oliver: Neben der Endlosdiskussion von Avantgarde und dem (scheinbaren oder tatsächlichen) Verschwinden des Autors denke ich, dass es Zeit ist, dass die Netzliteratur den Dialog mit dem normalen Literaturbetrieb aufnimmt. Zwei der Projekte, die ich momentan bearbeite, haben damit zu tun. Das eine ist ein Veranstaltungsblock zur Netzliteratur im Rahmen des Jubiläumskongresses des Schriftstellerverbandes im Dezember, das andere ist der Ettlinger Internet-Literaturwettbewerb, der in das Programm der Landesliteraturtage Baden-Württemberg im Oktober eingebettet ist. Beide haben das Ziel, die Diskussion um die Zukunft der Literatur im Netz in eine literarische Öffentlichkeit zu tragen. Was dabei herauskommt - dürfte spannend sein.


KriT: Wenn Du Dein bisheriges Onlinesein betrachtest: Wie fasst Du Deine Erfahrungen und Erlebnisse zusammen?

Oliver: Ich glaube, die wesentlichen Erfahrungen habe ich in den späten 80ern bereits im BITNET und im frühen Internet gemacht: Dass in den Drähten des Netzes eine ganze Welt 'lebt'. Früher war es so, dass diese Welt nur ein paar Studenten kannten. Heute machen wesentlich mehr Menschen ihre Ausflüge ins Netz. Aber es ist und bleibt eine 'zweite Welt', um die man sich kümmern sollte - so wie man sich um die erste kümmert.


KriT: Warum sollte man sich drum kümmern?

Oliver: Um die erste oder um die zweite? *grins* Ich hoffe, das wird jetzt nicht zu banal-philosophisch: Ich glaube, dass das, was uns, Dich, mich und andere am Netz so fasziniert, die Formbarkeit der Bits zu Welten ist. Oder anders: Wir sind fasziniert von dem Gedanken, im Netz etwas zu bauen, was wirklich 'einen Unterschied' macht. Hochtrabender: Aus den Bits basteln wir an einem Utopia. Vielleicht ein bisschen: jeder für sich, aber eben immer auch: im Netz mit anderen. Die 'Macht' so etwas bauen zu können, impliziert in meinem Verständnis auch: die Verantwortung dafür zu übernehmen.


KriT: Und was erwartest Du in der Zukunft vom Netz der Netze?

Oliver: Oh, Überraschungen. Wer hätte vor zwei Jahren sinnvolle Voraussagen über 1999 machen können? Aber lass mich zwei Bereiche herausgreifen: Sozial und technisch/inhaltlich. Sozial wird das Netz sicher geprägt sein vom Zustrom der Newbies. In den nicht-interaktiven Teilen des Web mag das kaum einen Unterschied machen - ausser bei den Zugriffszahlen. In den Diskussionsforen aller Art und in meinem Leib- und Magenforum, dem USENET, kann das verheerende Folgen haben, wenn Leute, die nicht mit dem Netz mitgewachsen sind, die Spielregeln mit Füßen treten - ohne es zu wissen. Denk auch an solche Probleme wie Schneeball-Mails oder Viren-Hoaxes: Newbies sind solchen Phänomenen ohne ordentliche Infos ausgeliefert.

Technisch hingegen dürfte das Netz in nächster Zeit von der steigenden Bandbreite bei der Übertragung geprägt werden. Das heißt dann aber auch, dass diese Bandbreite mit Inhalten gefüllt werden muss. Womit? Mit Videos? Mit Texten? Mit ...? Das Problem wird man angehen müssen. - Ui. Das war schwierig nirgends die Worte 'virtuell' und 'Cyberspace' zu verwenden - die mag ich nämlich gar nicht.


KriT: Warum nicht? Immmerhin wissen Netizens sofort, was gemeint ist und müssen nicht lange Erklärungen abliefern, wenn sie die Besonderheiten des Onlineseins im Unterschied zum realen Leben auf den Punkt bringen wollen. Was spricht gegen eine Alltagssprache im Cyberspace? ;-)

Oliver: Weil die Ausdrücke 'virtuell' und 'Cyberspace' - die inzwischen in der Bedeutung 'hat irgendwas mit Internet zu tun' verwendet werden - schon lange etwas anderes bedeuten. Und etwas ganz anderes als 'Internet'.

Alltagssprachlich sind sie auch nicht, sie sind dem journalistischen Zwang entsprungen, immer wieder Synonyme nachzuliefern, um nicht eintönig zu wirken. Ich renne offene Türen ein, wenn ich erkläre, dass Gibson den Cyberspace - sinngemäß - als 'shared electronic hallucination' bezeichnet, also als etwas, was das Internet nun definitiv noch nicht ist. Cyberspace ist ein hochinteressantes literarisches Konzept, aber eben kein realisiertes.

'Virtuell' heißt hingegen scheinbar. Scheinbar ist zum Beispiel das Bild im Spiegel: Es sieht so aus, als sei da ein Bild, aber dem Bild entspricht nichts Materielles. Einfacher: Ist unser Interview hier 'virtuell'? Der Online-Journalist würde es so bezeichnen. Aber was an unserem Interview ist "scheinbar"? Per Mail geht die HTML-Datei mit dem Interviewtext hin und her. Am Ende sind nicht schwarze Löcher sondern da sitzt jeweils ein Mensch, der eine Maschine bedient. Wäre ein Interview, das per Tonband und Bundespost für das Radio auf die selbe Weise entsteht »virtuell«? Ist ein Brief-Interview »virtuell«? Wenn Du in Pressetexten »virtuell« durch »elektronisch« oder »digital« ersetzt, dann stimmt der Satz wieder.

'Virtuell' ist lediglich 'Virtual Reality', die ist wirklich unecht oder scheinbar oder was auch immer. Eine E-Mail ist genauso wenig virtuell wie eine Webpage. Das so zu nennen ist nicht alltagssprachlich sondern blanker Unverstand (um das Wort 'Dummheit' zu vermeiden).


KriT: Du willst, dass man Dich innerhalb kürzester Zeit persönlich kennenlernen soll. Was erzählst Du?

Oliver: »Oh, ihr kennt doch diese Typen, die euch in der Schule schon genervt haben: Diese Vielredner mit leicht schiefem Sozialverhalten, die keiner zu Feten einlädt? Ja? Gut, jetzt zieht noch die Pickel von dem Bild ab und addiert einen Humor, den manche unglücklicherweise mit Arroganz verwechseln; und dazu noch eine Prise von dem Irrtum, der dafür sorgt, dass ein total fauler und chaotischer Typ von zu vielen anderen für einen Überflieger und 'workoholic' gehalten wird. Jetzt fehlt nur noch ein Teelöffel eines etwas altmodischen Pflichtgefühls, das zur Folge hat, dass der Typ auch alles fertig machen muss, was er sich mal angelacht hat.«

Naja, das wären jetzt die zwei Siebtel, die über der Wasserlinie liegen. Eventuell wäre der obenstehende Exkurs auch ersetzbar gewesen durch:

»Als die anderen beim Saufen waren, hab ich ne halbe Nietzsche-Ausgabe durchgelesen, an meinem programmierbaren Casio-501-P-Taschenrechner rumgefummelt und das goldene Tanzabzeichen gemacht.«
Naja, so in etwa.


KriT: Du kennst das Spiel wahrscheinlich, wenn Du ein fleissiger Apfel-Interview-Leser bist ;-) Die obligatorische Frage: Was denkst Du über KriT und den KriT-Apfel. Es darf auch schlechtes dabei sein ;-)

Oliver: Schlechtes? Da müsste ich mich ja anstrengen. Ich kann mich dunkel erinnern, dass ich irgendwann 96 oder 97 relativ früh auf Deine Seiten stieß, was mir dann recht bald klarmachte, dass ich noch viel zu lernen hätte. Die Apfel-Interviews (allein der Name ist schön, für jemanden, der griechische Sagen nicht ganz zum Ballast rechnet...) lese ich immer mit Gewinn, weil ich selbst über Leute, die ich 'real' oder eben 'elektronisch' kenne, noch ne ganze Menge erfahre.


KriT: Geht mir genauso. Vielen Dank für das Interview.


Zentrale Websites: [Olli] und Oliver Gassner's Switchboard

 


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