Chancen zur CyberCommunity
Birgit Pauli-Haack mischt kräftig mit im Web. Warum und Wie, das erzählt sie hier im Interview für den KriT-Apfel
KriT: Wir haben uns vor Wochen in der Mailinglist Webkultur
kennengelernt. Mir ist aufgefallen, daß Du Dich im Web sehr
engagierst. Du bist z.B. am Aufbau eines "Bürgernetzes
München" beteiligt. Um was geht es hier?
Birgit:
Das Bürgernetz München ist hervorgegangen
aus der Initiative "Bayern Online" der Bayerischen Staatsregierung.
Bayern soll hinsichtlich Datenautobahn fitgemacht werden für das
nächste Jahrtausend. Jede bayerische Bürgerin und jeder bayerische
Bürger soll kostenlos einen Internetzugang erhalten.
Das klappt wohl auch. Außer einer einmaligen Verwaltungsgebühr von 30
Mark ist für den User der Zugang zum Internet kostenlos. Diese
Initiative gibt es nicht nur in München. Auch in anderen größeren
Städten Bayerns finden sich Menschen, die sich dafür engagieren. Es
ist natürlich nur fast wie ein professioneller Zugang, aber das ist,
glaube ich, abends ab 21.00 Uhr sowieso egal, dann ist fast jeder
Zugang nicht mehr der schnellste.
Das Bürgernetz München hat
ca. 3000 User und davon sind ca. 900 Fördermitglieder, die einen
eigenen Homepageplatz auf dem Bürgernetz-Server haben und eine
"ordentliche" Email-Adresse. Der Betreiber ist das Frauenhofer
Institut München, wo der Server steht und gepflegt wird.
Mein Engagement im Bürgernetz ist fast
völlig "virtuell". Ich pflege die "Bürgernetz-Homepages", eine
Übersicht der bestehenden WWW-Seiten mit einer Themenliste. Darin
sind zur Zeit 75 Einträge - eine noch ziemlich geringe Zahl angesichts
der 900 möglichen. Um die Mitglieder anzuspornen, eigene WWW-Seiten
zu machen, habe ich den Home Page Workshop erstellt, der Tips & Tricks
und ein Graphik-Archiv bietet. Der Sinn meiner
Aktivitäten ist, mit den Mitgliedern im Bürgernetz München eine
CyberCommunity zu schaffen. Wir sind auf dem Wege!
KriT: Wenn ich an das reale Leben denke, dann fällt mir nicht gerade
zuerst Gemeinschaft ein, eher das Gegenteil. Warum
sollte so etwas im Web denn besser gelingen? Ist "CyberCommunity" nicht
eher ein frommer Wunsch als eine "reale" Möglichkeit des solidarischen
Miteinanders?
Birgit: CyberCommunity ist selbstverständlich ein Schlagwort, das
jede Gruppe, jeder Mensch für sich selbst definieren muß.
Ich definiere CyberCommunity aus meiner Online-Erfahrung heraus so,
daß sich zu wechselnden Themen unterschiedliche Menschen
zusammenfinden, wie z.b. in den Foren von CompuServe. Es bilden sich über
den rein sachlichen - meist technischen Inhalten - private und persönliche Beziehnung. Man begegnet online wie auch im
realen Leben Menschen, denen man etwas zu sagen hat und solchen,
wo die Kommunikation über den sachlichen Inhalt nicht hinaus
geht. Die Chance für beides ist halt sehr groß ;-))
Diese Bildung einer solchen Gemeinschaft dauert wohl etwas länger als
ich nach ungefähr fünf Monaten sagen kann, aber es funktioniert.
Ein
weiteres Schlagwort ist Interaktivität, das in den gleichen
Zusammenhang genannt werden muß. Wie bringe ich den Konsumenten
dazu, sich zu beteiligen?
Daß viele Mails unbeantwortet bleiben, sollte dabei nicht
frustrieren, es kommen auch sehr positive, anspornende Mails. Ich
betrachte es als Experiment, das noch lange nicht zu Ende ist. Du
magst mich für naiv halten, in meinem "privaten Streben" eine
Community zu schaffen, aber ich will nun einmal erfahren, was bei
Leuten ankommt und was nicht. Da ich nur glaube, was ich sehe,
probiere ich einiges aus. Ich weiß, daß meine Seiten gelesen werden,
explizites feedback ist eher selten... Daraus schließe ich noch
nicht, einer stummen imaginären Masse gegenüber zu stehen, sondern
erst einmal nur, daß es noch nicht der richtige Dreh war, Leute
anzusprechen.
Solidarität ist allerdings etwas, was ich, wie Du, kaum im realen
Leben finde. Es ist tatsächlich eine Utopie, in Zeiten, in denen der
Wohlstand herrscht; selbst, wenn dieser schwindet. Die Selbstlüge vom
"mir kann das alles nicht passieren" und "Das Glück ist mit den
Tüchtigen und wir sind tüchtig" hält uns davon ab, uns solidarisch zu
erklären, weil viele nicht wissen "Womit?".
Die persönliche Betroffenheit, und das ist fast natürlich, fängt erst
an, wenn etwas am eigenen Leib erfahren wird. Zyniker halten das für
"Mangel an Phantasie" und da bin ich zynisch.
KriT: Auf Deiner Homepage problematisierst Du Zensur
im Netz und seit kurzem machst Du mit Ralf P. Graf das "Shoah-Projekt"
gegen Fremdenhass und Nazi-Ideologie. Was motiviert Dich zu politischem
Engagement im Web?
Birgit: Die Auseinandesetzung mit dem Holocaust hat begonnen, als ich
noch auf der Schule war; die Nation war erschüttert von dem
vierteiligen amerikanischen Film "Holocaust" und ich auch. Ich
begriff erst durch die Schicksale der Filmfamilien, was die
Naziherrschaft im täglichen Leben einer jüdischen Familie bedeutet
hat. Wie die Nation schon Jahrzehnte, fragte sich auch
Klein-Birgit: "Wie war das möglich!" Für mich stellte sich auch noch
eine andere Frage: "Wieso haben sich die Juden nicht gewehrt?"
Seitdem habe ich ziemlich viel gelesen: Fast alles von Lion
Feuchtwanger, Leon Uris, Sebastian Haffner, Albert Speer, natürlich
auch Daten, Fakten, Hintergründe... Im Moment lese ich von Victor
Klemperer: "LTI" (Lingua Tertii Imperii) - Notizbuch eines Philologen,
über die Sprache des Dritten Reiches.
Nun bin ich erzogen im Respekt
für Andersdenkende, geübt in der (manchmal wirklich schwierigen)
Toleranz der Meinung anderer, ausgestattet mit einem ausgeprägten
Gerechtigkeitssinn. Das nun ausgerechnet das absolut freie
und chaotische Internet staatlichen Stellen zur Begierde ihrer
Zensurmacht wird, halte ich nicht für richtig.
So gern ich die menschenverachtenden
Neonazis mit ihren Hetzparolen daraus verbannt sähe, und so sehr ich
es begrüße, daß Nazipropaganda in Deutschland verboten ist, halte ich
Zensurbestrebungen im Internet für einen Rückschritt im
demokratischen Prozeß.
Und zwar aus einem Grund: Wenn andere Nationen
die deutsche Argumentation zur Zensur von Nazis auf ihre
spezifischen Belange übertragen - China gegen Dissidenten, Iran gegen westlichen
Lebensstil, selbst die USA mit ihrem Indecent Act - dann wird im
Internet bald nichts mehr zu sehen sein, außer verschleierten Frauen,
Hygienevorschriften für die Bürgersteige in Singapur und Autowerbung
von VW. Wer legt denn die Maßstäbe fest? Wie wollen wir z.B. China
klar machen, daß Meinungsfreiheit im Internet ein höheres Gut ist als
die Machterhaltung der kommunistischen Partei, wenn wir nicht
sorgfältig mit unserer eigenen Meinungsfreiheit umgehen
und Zensur von Internet-Inhalten im eigenen Land zulassen?
Wenn ich also Nazis vor diesem Hintergrund nicht aus dem Netz
verbannen kann, muß ich etwas dagegensetzen. Im Land der Täter gibt
er sehr wenig zu diesem Thema. Ralf P. Graf hat auf seiner Homepage
ähnliche Inhalte und wir haben uns regelmäßig ausgetauscht. Daraus
ist nun das gemeinsame Shoah-Projekt geworden. Für uns hat es wenig
Sinn den zahlreichen Link-Listen zwei weitere hinzuzufügen.
Also pflegen wir nur eine und wollen mit dem Rest der Site Inhalte
bieten: Hintergrund-Informationen zu bestehenden Projekten (z.B.
nizkor.org), Geschichten von Überlebenden, Dialog mit
Holocaust-Forschern in den USA, dem "MedienSurf" mit der
Information aus der Presse und vom Buchmarkt. Außerdem möchten wir
die wenigen deutschen Seiten anderer Anbieter in die Site
integrieren. Denn es gibt wirklich gute Sachen, die ziemlich schwer im
riesigen Internet aufzufinden sind.
KriT: Das hört sich nach einem beträchtlichen Zeitaufwand an! Wie
schaffst Du das und wie paßt sich das in Dein "real life" ein?
Birgit:
Zeit ist ein absolut relativer Begriff. Für etwas, was man gerne
macht, ist immer Zeit! Um es etwas zu konkretisieren: Ich habe an
einem Arbeitstag zwischen einer und vier Stunden Energie und
Konzentration für meine Email und der Renovierung meiner Homepage bzw. zur
Umsetzung neuer Ideen. An meinen freien Tagen verbringe ich fast
meine gesamte Zeit vor dem Computer. Für viele kann das ein Horror
sein, und das kann ich verstehen. Für mich bedeutet es absolute
Ablenkung und ist ungeheuer erholsam.
Privat bin ich mit einem Programmierer und furchtbar
lieben Menschen verheiratet, werde dieses Jahr 34 Jahre alt und
beruflich führe ich ein Restuarant der Systemgastronomie mit ca. 45
Mitarbeiter und durchschnittlich 500 bis 1000 Gästen täglich. Damit
bin ich ziemlich vielen Leuten ausgeliefert, die mich beanspruchen
und mich fordern. Das meiste ist nicht planbar und passiert von einer
Sekunde auf die andere. Ich kann mich morgens in mein Restaurant
stellen und warten, was passiert. Es ist unheimlich spannend und ich
habe viel Energie. Das meiste, und das ist das Haupthandicap,
passiert im akustischen Bereich: Telefon klingeln, Guten Tag sagen,
Motzereien von schlechtgelaunten Mitarbeiter, die Unterhaltungen mit
meinen Stammgästen und solchen, die es werden. Die Geräuschkulisse,
wenn einige Hundert sich unterhalten, die Hintergrundmusik, das
Knattern der Bondrucker, der Kassen usw. Meine Online-Existenz ist
das reine Kontrast-Programm. Meine Ohren haben Pause. (Seiten im
Internet mit Hintergrundmusik schaue ich mir nicht lange an
) Es ist das völlige "Für-Mich-Sein" und das relativ leichte
Umsetzen von Kreativität, was mich an der Gestaltung von WWW-Seiten
so fesselt. Ich beantworte Email, wann ich will oder eben gar nicht.
Und, was sicher auch ein Aspekt ist, ich nehme keinerlei Verantwortung wahr, außer der, die ich mir selbst auferlege.
KriT: Befürchtungen und Wünsche? Oder: Wagst Du eine Prognose, wie
sich das WWW in den nächsten Jahren entwickeln wird?
Birgit:
Lieber Weihnachtsmann! Kurz vor Weihnachten wirst Du überschüttet
mit Wünschen aus der ganzen Welt, es bleibt Dir meist nur eine
kurze Zeit, diese zu erfüllen. Damit ich auch sicher gehe, daß meine
Wünsche realisierbar sind, wende ich mich schon heute an Dich. Also
bitte, bitte mach das Internet ganz schnell, damit ich die vielen
guten Homepages alle anschauen kann! Oder überred' die Telekom, daß
sie die Gebühren für Ortsgespräche senkt auf 1 Pf pro Stunde.
Ok, ok! Also ernsthaft: Ich fürchte, wir werden auch im Internet von
Werbebannern überhäuft werden. Die Perlen privater Homepages wird
wachsen, ebenso wie die Hallo-Welt-Pages. Ich fürchte jedoch, daß
Internet immer ein Privileg bleiben wird. Die CyberHype ist überzogen
und nur Verrückte, wie ich, werden im Cyberspace eine Heimat
finden. Email wird weiter die Welt zu einem Dorf machen, genauso wie
Zeitschriften weiter am Kiosk gekauft werden. Online-Shopping wird
den Versandhaus-Katalog nicht ablösen, nur ergänzen.
Internet wird die Welt nicht retten können, nur Taten im realen Leben
werden unsere Welt weiterbringen. Und das :-)-Smiley wird ein reales
freundliches Lachen nie ersetzen können.
KriT: Vielen Dank. Den KriT-Apfel schicke ich Dir die Tage frisch aus
kritschen Landen zu. Du hast das letzte Wort.
Birgit: Lieber Ralph, vielen herzlichen Dank für den KriT-Apfel. Ich
freue mich sehr darüber! Nun übernehme ich zum ersten Mal eine
Verpflichtung im CyperSpace: nämlich des KriT-Apfels weiterhin wert
zu sein. Man liest sich :-))))
Pauli's Bibliothek
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